Donnerstag, 24. August 2006

Literatur und Biographie

Voller Angst sind die Literaturanalytiker darauf bedacht, Werk und Dichter geschieden zu halten. So wird das andere nicht durch die Unzulänglichkeiten des einen verletzt. Offenbar hatten frühere Zeiten ein viel einfacheres Verhältnis zum Verhältnis von Literatur und Personen, die diese Literatur erzeugten. Hölderlin hat nicht nur seine Diotima der konkreten Person nachgedichtet, er legt auch der Delia im Empedokles die Worte in den Mund:*

Sophokles! dem vor allen Sterblichen
Zuerst der Jungfraun herrlichste Natur
Erschien und sich zum reinen Angedenken
In seine Seele gab --
jede wünscht sich, ein Gedanke
Des Herrlichsten zu sein, und möchte gern
Die immerschöne Jugend, eh sie welkt,
Hinüber in des Dichters Seele retten
Und frägt und sinnet, welche von den Jungfraun
Der Stadt die zärtlichere Heoide sei,
Die er Antigone genannt; ...

Wodurch kommt überhaupt das Problem auf, Biographie und Werk als in Spannung befindlich zu sehen? Warum ist nicht ohne Debattieren klar, daß jemand, der schreibt, etwas haben muß, das ihm -- in allerrealster Weise -- Gegenstand seines Schreibens ist? Man wird doch beiden, der literarischen wie der wirklichen Gestalt nicht gerecht, wenn man insistiert, daß die Dichtung 'mehr' sei, als die Beschreibung des einzeln-konkreten Menschen. Wodurch wird sie mehr? Durch den Leser. Klar, was aber ist daran besonderes? Erst durch die Illustrierten-Literaturwissenschaftler, die alle Literatur mit dem Haut-gout des Biographischen würzen müssen, um dann anschließend sich in die Brust werfend zu behaupten, Literatur sei mehr als das Private -- erst durch diese ist die schöne Selbstverständlichkeit des Verhältnisses doch aus den Fugen geraten.

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* Hölderlin, Empedokles I. -- Werke Bd. II, 466

Aus einem alten Zettelkasten. Datum: 6. Oktober 1977.

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