Sonntag, 5. November 2006

Furtwängler und Grass

Ein Zitat aus der Online-WELT:

"Erst 1947 wurde seine Entnazifizierung vollzogen. Wer Furtwänglers Verhalten und seine privaten Aufzeichnungen kennt, kommt schnell zu dem Schluss, dass er wohl eitel und geltungssüchtig war, aber weder Antisemit noch Nationalsozialist."

War er also nicht. Nicht Antisemit, nicht Nationalsozialist. Aber er war, nach Meinung wahrscheinlich der meisten Fachleute: ein großer Dirigent. "Drei Generationen nach seinem Tod ist seine Ausstrahlung noch immer so ungebrochen wie bei keinem Dirigenten sonst."


Aber ist das alles? Ich schließe mal, mit einer kurzen Vorrede, eine Feststellung und eine Frage an. Die mehr oder weniger gut versteckte Geltungssucht und Eitelkeit ist menschlich und allzu-menschlich. Nun gut. Aber es gibt Bremsen. Bremsen, die wohl immer im Unbewußten liegen, da wo diese eigenartige Sprachkonstruktion, das Ich keinen Zugang hat und also auch keine persönlichen Verdienst erwirbt. Es ist halt Schicksal und Bestimmung.

Dies vorausgesetzt: Es gibt ungebremst geltungssüchtige Menschen mit einer guten Maske aus Bürgerlichkeit, die sich dem geltenden politischen und kulturellen System in jeder Situation unterwerfen. Nicht weil sie mit dem Politischen und dem Kultursystematischen ihrer Zeit übereinstimmen, sondern, weil sie nur so an die Spitze der Berühmtheiten-Pyramiden kommen können. Und es gibt andere, deren Bremse eine eigene Form des Kontemplativen und Un-Erfolgreichen herbeizwingt. Sie bleiben -- ganz oder fast ganz -- im Verborgenen.

Wenn wir nun die Frage stellen: Wer ist wertvoller für die Kultur, diese Erfolgreichen oder jene Nicht-Erfolgreichen? Wie lautet die Antwort der Abstimmungsbürger?

Ich gebe eine Schätzung ab: 85% der bürgerlichen Menschen heute halten natürlich die Erfolgreichen für wichtiger.

Aber ist das so? Nein, es ist nicht so. Wäre, um auf das schon nicht mehr Aktuelle des Grass'schen Beispiels noch einmal zurückzukommen -- wäre Günter Grass ein weniger bedeutender Schriftsteller, wenn er sich 1960, nach dem Blechtrommel-Erfolg, öffentlich mit sich und mit derartigen Fragen auseinandergesetzt hätte? Noch einmal gesagt: Er wäre weniger erfolgreich geworden, und den Nobelpreis hätte er nicht bekommen. Aber er wäre wichtiger für diese Zeit heute, und er wäre wichtiger für die Zukunft.

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Nachtrag am 12.03.2007, gerade bei Wikipedia gefunden:

"Im August 2006 äußerte sich Karasek in Interviews und Zeitungsartikeln (u. a. im Springer-Blatt „Welt am Sonntag“, 20. August 2006) zu Günter Grass' spätem Bekenntnis, als Jugendlicher zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein. In diesem Zusammenhang ließ er anklingen, dass der Literat sich den Nobelpreis „erschlichen“ habe, weil das Nobelkomitee möglicherweise anders entschieden hätte, wenn Grass diesen Sachverhalt in seinem Lebenslauf dargestellt hätte."

Hätte ich nie gedacht, dass ich einmal zu Karasek kongenial sein könnte!

Nachtrag am 25.03.2007, aus der SZ:

"Der Ton der gedemütigten Unschuld, der Schmerzensschrei des geschundenen Opfers, die moralische Empörung verwundert. Aber sie verwundert jedes Mal bei Günter Grass. Ein wenig Erinnerung mag da helfen: Hatte Günter Grass das große Interview, in dem er von seinem frühen Leben und auch von seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS berichtete, der Zeitung nicht freiwillig gegeben, in einer sommerlichen Idylle unter einer Kastanie? Hatte die Zeitung, im Gegenzug, nicht einen Teil eben dieser Erinnerungen in einer prächtig aufgemachten Sonderbeilage als (dann, weil die Nachfrage zu groß wurde, verspäteter) Vorabdruck veröffentlicht? Seit fünfzig Jahren lebt Günter Grass mit den Medien, bedient sich ihrer, weiß auszuwählen, welchen publizistischen Zweck er in welcher Form und in welchem Organ am effektivsten verwirklichen kann. Und da sollte ihm entgangen sein, dass die Medien ein inniges Verhältnis zur spektakulären Nachricht unterhalten - während er selbst eben diese Nachricht anbietet wie eine heiße Ware?"

Wohl formuliert. (Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 20. März 2007, S. 11)

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