Montag, 8. September 2014

Literarische Miniaturen: Der Zeit-Forscher

Sebastian Buse war ein Mann, der tief denken, aber nicht genau formulieren konnte. Präziser gesagt: Sebastian Buse konnte überhaupt nicht abstrakt formulieren. Wenn es ging, vermied er, etwas schriftlich festzuhalten. Er telefonierte problemlos, aber Schreiben war nicht sein Ding.
Sein Leben lang war Buse fasziniert von der Zeit. Er wollte wissen, was das ist, die Zeit. Im Alter von 38 Jahren war Buse einmal fast soweit. Er würde das, was er bis zu diesem Zeitpunkt herausgefunden hatte, aufschreiben, sagte er sich. Er schrieb dann genau einen Satz. Nachdem er den Satz geschrieben hatte, resignierte er und zerriss das Blatt Papier, auf dem der Satz stand.
Buse war ein normaler und ein tüchtiger Mann. Er war Busfahrer in Bremen, als der Fahrer angestellt bei der BSAG, der Bremer Straßenbahn AG, die auch die Buslinien betrieb. Als Buse sich einst bei der BSAG beworben hatte, war ihm dieser Name Bremer Straßenbahn AG und die dazu gehörige Abkürzung seltsam vorgekommen. Aber er gewöhnte sich rasch an den Namen seiner Arbeitgeberin.
Jetzt war Sebastian Buse genau 10 Jahre älter. An einem sonnigen Herbstnachmittag, einem Montag, an dem er während des Tages frei hatte, ging Buse durch seinen kleinen Garten, und er empfand auf einmal ein tiefes Gefühl, das er seit seiner Jugend so klar nicht mehr gefühlt hatte. Er empfand, dass an solch einem sonnigen Tag der Mensch sich als ewig und also als unsterblich erleben konnte. Das Gefühl war unabweisbar klar und also vollständig mit Wahrheit aufgefüllt: Er, Sebastian Buse, durchaus nicht mehr jung, war, während er so durch den Garten und über die Terrasse ging, unsterblich. Dieses Gefühl hätte Buse gerne in Worte gefasst, ja er hätte darüber gerne ein ganzes Buch geschrieben. Denn das Gefühl war tief und es war, soweit man dieses Attribut auf Gefühle überhaupt anwenden kann, sehr, sehr wahr. Es war ein wahrhaftiges Gefühl. Fast hätte Buse aufgeschrien, so intensiv war das Gefühl.
Nachdem er aber bereits 10 Jahre zuvor die Erfahrung gemacht hatte, dass er zum Aufschreiben solcher Tatbestände und Empfindungen einfach nicht geboren war, ging Buse zurück ins Haus, duschte und machte sich eine Stunde später auf den Weg zur Arbeit. Wie immer kam er pünktlich zu seiner Schicht.