Montag, 8. Dezember 2014

Die Abneigung gegen "selbsternannt ..."


Offener Brief

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Liebe Journalisten der hochstehenden Journale,

bitte denkt doch mal und immer wieder kurz nach, bevor ihr das Attribut selbsternannte (heute auch auch schon: selbst ernannte) verwendet. Um einen Kontext herzustellen: Die Opposition in der DDR 1989, die auf die Straße ging und gerufen hat "Wir sind das Volk!" hat gewiss keiner ernannt. Und ohne die Pegida* mit der DDR-Opposition in irgeneinem Punkt sonst gleichsetzen zu wollen -- ein Argument wird aus "Selbsternannte Retter des Abendlandes" nicht einmal ansatzweise. Da muss man schon an einer anderen Ecke anfangen. Protestbewegungen, egal welcher Couleur, entstehen halt nicht durch Wahl oder Ernennung.

So, und jetzt etwas allgemeiner: Es gibt viele Bereiche, in denen sich die Menschen erst mal 'selbst ernennen'. Da sagt man dann oft im Rückblick: 'Er hat an sich geglaubt, auch, als er noch keinen Erfolg hatte.' Ich meine, wenn ich innerlich brenne und meine Malerei, den Rock'n Roll oder auch eine politische Berufung in mir spüre -- soll ich dann warten bis eine Galerie, eine Plattenfirma oder eine Partei mich zu irgendwas wählt oder ernennt?! Glaubt ihr wirklich, dass die Welt so ist oder so sein sollte?

Und schließlich vielleicht das noch für das weitere Nachdenken:
  • Napoleon war wohl so etwas wie ein selbsternannter Kaiser ...
  • Hitler aber ein ganz offiziell ernannter Reichkanzler
  • War Hitler deshalb besser als Napoleon? -- Doch weiter, über das hinaus:
  • War Napoleon, selbsternannt oder nicht, der mal eben hundertausende von Soldaten in Russland verheizt hat, um dann zum Machterhalt mit dem Schlitten nach Paris zu eilen, ein guter Kaiser? 
  • Sollte man mal drüber nachdenken, ob man Schulkindern die 'Fakten' der napoleonischen Zeit einfach so 'beibringt' und sie damit glauben macht, solcherlei Handeln sei halt dem Handlungsbedarf großer Männer zu allen Zeiten angemessen?
Aber gut, ich weiß: Was die letzten beiden Punkte angeht -- das ist ein anderes Thema.

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"selbsternannte" -- Google-Häufigkeit (Stand: 09.12.2014)

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* Pegida[Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes] In meinem analogiensuchenden Übereifer hatte ich, als da Pegidia stand, wahrscheinlich an die Wikipegidia - pardon! an die Wikipedia gedacht.

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Eine vergleichbare Argumentation: "Überhaupt sollte man vielleicht dazu raten, den 'Israeli Anti-Semitic Cartoons Contest' als Eigenwerbung des jungen und aufstrebenden Cartoonisten Amitai Sandy zu verstehen, der einen erheblichen Nachrichtenwert mit diesem Contest produziert hat, der neben der Frage nach Krieg und Frieden vor allem einen Nutzen spendet: Die Karriereförderung des nun allseits bekannten Initiators." 

Da ist die Antwort doch: Ja, und? Vielleicht hat Sandy das auch für die eigene Bekanntheit als Künstler kreiert. Aber mindert das den Wert der Sache?! Verstärkt: Wenn sämtliche Physik-Nobelpreisträger nur vom Ehrgeiz zerfressene Karrieristen wären -- wären ihre Leistungen in der Sache darum weniger wert?