Sonntag, 13. Dezember 2015

Wer ist das Volk?

Und welche Rolle spielt es bei der politischen Entscheidungsfindung?

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Ein allgemein und gerne genutzter argumentativer Zug im politischen Diskurs geht so: "A sinuiert: Wenn du nicht Gefahr laufen willst, mit dem -- bei der Gruppe G sehr negativ konnotierten -- Prädikat P belegt zu werden, dann behaupte / frage nicht X!"

Das klappt als Vorab-Einschüchterung natürlich nur, so lange der Mensch, der behauptet oder fragt, sich um die Gruppe G und ihre Meinung schert. Wenn nicht, ist ihm diese Drohung auch piepschnurzegal.

Mir ist sie, diese Drohung, nun, vielleicht nicht piepschnurz, aber egal. Weil ich die Probleme von einer wissenschaftlichen Perspektive, heißt: relativ losgelöst von allen Gruppen der politischen Praxis, auch von irgendwelchen Chefkommentatoren betrachten möchte. (Übrigens: Chefkommentator? Das habe ich immer für ein Attribut von Karl Eduard Schnitzler gehalten. Jenseits davon: für Ironie. Wie man sich doch täuschen kann!)

Betrachten wir nun einmal diese Einlassung:

"MEINUNG DIREKTE DEMOKRATIE 13.12.15 Volksentscheid in der Flüchtlingspolitik? Bloß nicht! Bis vor kurzem forderten Grüne und Sozialdemokraten mehr Elemente der direkten Demokratie. Gilt die Idee auch für die Asylpolitik? Es wird Zeit, sich offen zur repräsentativen Demokratie zu bekennen. | Von Jacques Schuster | Chefkommentator || Offenbar haben sich die Grünen eines Besseren besonnen. Bis in das vergangene Jahr hinein verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendeiner ihrer Matadoren vor die Kamera trat und mit blasiertem Blick erklärte, wie nötig es sei, das Grundgesetz durch Elemente der direkten Demokratie, mindestens durch Volksbefragungen, wenn nicht sogar durch Volksentscheide zu erweitern. Aus ihren Worten klang meist ein leiser Ton der Verachtung. Er sollte den Wählern bedeuten: Wir teilen das allgemeine Missbehagen vieler Bürger an der repräsentativen Demokratie und werden alles dafür tun, dem Volkswillen Geltung zu verschaffen. | Meist erhielten die Grünen Beifall für dieserart Andeutungen. Die Vertreter der Vulgärpolitologie in Deutschland sind eben genauso zahlreich wie die journalistischen Verfechter eines demokratisch getarnten Nihilismus, der angeblich nur die reine Demokratie verteidigt, in Wahrheit aber nahezu wertneutral ist und mitunter zerstörerisch wirkt.


Was man festhalten muss, wenn man das hohe Lied der repräsentativen Demokratie singt: dass das Volk dann natürlich keinen direkten Einfluss hat. Das ist klar, es wird ja von den Repräsentanten repräsentiert.

Das wird nun aber manchmal so verstanden, dass das Volk bloßes 'Stimmvieh' ist, das die aufstellt, die dann doch machen, was sie wollen. (Witz BTW: "Bilden Sie bitte einen Satz mit Watt Ohm und Volt!" "Ja. Nu gut. 'Ihr da ohm, macht watt ihr volt.'")

Wir stehen mithin und schlichtweg vor einem großen demokratietheoretischen Dilemma: Auf der einen Seite, sollten die gewählten Abgeordneten das beschließen, was das Wahlvolk in seiner Mehrheit will. Das Repräsentative ist da nur ein Abkürzungsverfahren. Die 620 Abgeordneten in Berlin sind immer da. Volksentscheide sind schwer zu organsieren. Auf der anderen Seite ist schon klar, dass 'das Volk' verführbar ist, kindlich, stellenweise kindlich-dumm. Manchmal auch einfach nur dumm. 

Wenn politische Entscheidungen in ihrer Komplexität Entscheidungen in einem sehr großen Schachbrett wären, was wäre gewonnen, wenn alle gleichberechtigt über den nächsten Zug abstimmen dürften? Nun ja, analog zum echten Schach und seinen unterschiedlich guten Spielern: das Verlieren wäre gewonnen! Darum: Das Volk wählt die besten Polit-Spieler, die verschiedene Theorie-Richtungen vertreten, und die treten dann gegeneinander an. Das ist das Repräsentative an unserer Demokratie. Nur eben und noch einmal: Das Volk ist in diesem Modell der Infant. Verführbar. Kindlich. Usw. Das hatten wir schon einige Male hier. Die Dignität des Volkes ist eine traditionelle Schimäre. So wie einst der Monarch 'von Gottes Gnaden' eine war.